Jens Kerbel

 

FLUCHT-(T)RAUM

 

Ein Rechercheprojekt gefördert durch das Stipendienprogramm NEUSTART KULTUR

 

 

 

             

 

  

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Sachbericht zur Recherche

 

Ausgangspunkt meines Arbeitsvorhabens war die Überlegung, ob sich auch für die digitalen Theaterauftritte eine Art „Internet“- Bühnenbild entwerfen lässt. Dafür wollte ich mit den persönlichen Geschichten Geflüchteter der Bonner Flüchtlingshilfe, zu denen bereits durch ein früheres Projekt vertrauensvolle Kontakte bestanden, ein digitales Projekt erarbeiten.

 

Nach einem ersten Austausch ergab sich die Bereitschaft von neun Männern und einer Frau sich für das Projekt zu öffnen. In einem ersten Schritt führte ich Interviews, in denen ich mit den Gesprächspartnern über deren Leben vor der Flucht, ihre Flucht und ihre jetzige Situation sprach. Ihre Erzählungen dokumentierte ich (Video/Audio) und transkribierte sie im Anschluss. Ich wählte dann fünf Erzählungen aus, die für das Vorhaben besonders interessant waren und erstellte daraus eine Textfassung.

 

Im zweiten Schritt filterte ich aus diesen Geschichten Assoziationen, Erinnerungen und Gefühle, die ich in einem möglichen Raum aufgreifen und installativ – abstrakt widerspiegeln könnte. Daraus ergaben sich folgende Fragestellungen: Ist eine Annäherung durch Bühnenbildmodelle sinnvoll? Ist der Bau eines Raumes, der exakt auf das Filmformat angepasst und abstrakt gestaltet ist (z.B. aus Papier u. Pappe) und, je nach Erzählung, mit wenigen Versatzstücken verändert werden kann zielführend?

 

Nachdem ich mir einen Überblick über verschiedene Internetpräsentationen von Theatern und Künstlern verschafft hatte, versuchte ich im dritten Schritt, spezielle Gestaltungsformen für ein Internet-Raumbild zu finden und zu entwickeln. Hierzu beschäftigte ich mit eingehend mit Videobearbeitungsprogrammen wie Adobe Premiere Pro, Adobe after effects und Kinemaster, studierte einschlägige Literatur zu den Themen Bildbearbeitung und Kameraführung und pflegte den Austausch mit mir bekannten Videokünstlern, um mir in diesem Bereich das nötige Grundwissen anzueignen.

 

Es ergaben sich folgende Strategien:

 

1. Einsatz von gestalteten Hintergründen Mittels Malerei, Illustration oder einer Grafik, also klassischen Gestaltungsmitteln des Theaters, kann ein gestalteter Hintergrund, der die Thematik der jeweiligen Erzählung aufgreift, angebracht werden. Alternativ lässt sich ein virtueller Hintergrund montieren. Tests hierzu stellten sich als zufriedenstellend heraus, widersprechen aber der gewünschten Theaterästhetik.

 

2. Einsatz von Raummodellen Insbesondere für Produktionen mit geringem Budget bietet sich der Einsatz von Raummodellen, also verkleinerten Theaterräumen (Bühnenmodellen) an. Diese können als virtueller Backdrop zugespielt werden. Technisch werden hier zwei Aufnahmen übereinandergelegt, somit kann eine Raumtiefe erzeugt werden und die agierende Person im erschaffenen Raum auftreten. Eine weitere Einsatzform wäre ein Zusammenschnitt mehrerer Fotos von verschiedenen Modell Bildern mit unterschiedlicher Raumsituation und Beleuchtung. So kann der Inhalt der Geschichten in verschiedenen Konstellationen anschaulich werden.

 

3. Einsatz von filmischen Hintergründen Komplexer ist es, zwei Bewegtbilder miteinander zu verbinden, also z.B. eine Filmaufnahme des Modells (aus verschiedenen Blickwinkeln oder Großaufnahmen) und eine Filmaufnahme des Erzählenden (ebenfalls aus verschiedenen Perspektiven). So wird ein reales Auftreten im Raum 10 simuliert. Dies wäre mit den oben genannten Video-Bearbeitungsprogrammen möglich, erfordert jedoch aufwändiges Equipment und ein hohes Maß an Erfahrung in der Bildbearbeitung.

 

4. Stop - Motion - Film Möglich sind auch direkt abgefilmte Animationen im Modell (oder einer anderen stilisierten Umgebung) im Stil von Stop-Motion-Filmen, als Filmtechnik, bei der eine Illusion von Bewegung erzeugt wird, indem einzelne Frames von unbewegten Motiven aufgenommen und anschließend aneinandergereiht werden. Diese Technik eignet sich besonders als stark stilistisches Mittel, das auch zur Ergänzung von Realerzählung eingesetzt werden kann. Die Stop-Motion Technik ist leicht umzusetzen und somit auch für Laien handhabbar.

 

5. Theatrales Film-Set Aufwendig, aber eindrücklich wäre ein gebautes Film-setting, das genau auf das Aufnahmeformat abgestimmt ist, also bei einem Seitenverhältnis von 4:3 (Seitenverhältnis des traditionellen Fernseh oder Videobildes) wäre das ein Raum von 4 Meter Breite und 3 Meter Höhe. Ästhetisch bietet diese Variante viele künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten, durch Farb-, Material und Musterwahl, der Nutzung von Tiefenwirkung und der Möglichkeit für konkrete Aus- und Abtritte. Auch Bühnenverwandlungen sind in dieser Variante denkbar. Dieser Zugang erfordert einen hohen Arbeitsaufwand und den Zugriff auf viele Ressourcen.

 

Eigener künstlerischer Ansatz Die sich für mich aus der Recherche ergebende Raumlösung für das Projekt, ist die eines gestalteten Hintergrundes, kombiniert mit Raumelementen. Es entstand die Idee, für den Hintergrund einen Wandelprospekt zu nutzen. Dieser kann individuell auf die Erzählungen bezogen gestaltet werden. Ergänzt wird er durch Raumelemente, die im Bezug zu den Erzählungen stehen. Der Wandelprospekt greift die Aspekte Bewegung, Reise, Flucht auf. Ästhetisch greift man auf eine alte Theatertechnik zurück und bindet diese in einen digitalen Kontext ein. Zudem bietet dieses Stilmittel die Möglichkeit collagenhaft zu Arbeiten und die Verbindung zwischen den verschiedenen Erzählsträngen herzustellen. Die Umsetzung ist auch mit einem überschaubaren Kostenaufwand zu realisieren, greift man auf haptischen Alltags-Materialien zurück.

 

In einem vierten Schritt soll nun das modellhaft Erprobte ins Werk gesetzt werden. Zum jetzigen Zeitpunkt sind bereits Proben mit den Schauspielern erfolgt, die stellvertretend für die Interviewpartner agieren werden. Die pandemische Lage verzögert aber weiterhin den Zeitplan für den letzten Teilabschnitt des Projekts, weshalb es noch nicht zur Veröffentlichung einer Aufführung kommen konnte. Erkrankungen, Quarantänemaßnahmen und der, durch die in den Theatern getroffenen Hygienemaßnahmen, stark eingeschränkte Zugriff auf benötigte Ressourcen, sind die Gründe dafür. Daher wird, nach der erfolgreichen Erarbeitung der ersten drei Teilschritte, also der eigentlichen Recherchearbeit, der Teil der digitalen Montage, hin zur Veröffentlichung, noch Zeit in Anspruch nehmen.