Jens Kerbel

FOTOGALERIE

 

 

 

Neil LaBute

 

LAND DER TOTEN

 

Deutsch von Frank Heibert

 

 

Foto: Thilo Beu


 

 

 

Die ineinander verschränkten Monologe eines jungen Paares. Sie geht am Morgen des 11. Septembers 2001 in die Klinik, um eine Abtreibung machen zu lassen. Er hatte vorgehabt mitzukommen, muss dann aber doch früher in die Firma, hoch oben in den Twin Towers. Als sie aus der Narkose aufwacht, findet sie seine Stimme auf ihrer Mailbox: “Wenn du willst, können wir’s auch durchziehen und das Ding behalten.” Im Hintergrund dröhnt ein Summen. Immer wieder wählt sie seine Nummer, ohne eine Antwort zu erhalten.

 

 

Anmerkung: LAND DER TOTEN wurde gemeinsam mit den Stücken HELTER SKELTER (Inszenierung: Jennifer Whigham) und ICH MAG DICH WIRKLICH (Inszenierung: Stefan Heiseke) aufgeführt. Die drei Stücke fanden eine ästhetische Rahmung durch die gemeinsame Ausstattung und eine übergreifende Dramaturgie. Die einzelnen Stücke wurden von den Regisseuren weitestgehend unabhängig voneinander erarbeitet.

 

 

 

Inszenierung: Jens Kerbel

Bühne: Gesine Kuhn

Kostüme: Uta Heiseke

Musik: Lars Figge

Licht: Lothar Krüger

 

Mit: Birthe Schrein, Andreas Maier

 

 

Premiere: Februar 2007, Theater Bonn

 

 

 

 

 

PRESSE:

 

Deutschlandfunk, 8 Februar 2007

Geschenk für eine schwangere Schauspielerin

Uraufführung von Neil LaButes neuem Stück „Helter Skelter“ in Bonn


Neil LaBute zählt zu den in Europa meistgespielten US-Dramatikern. Auch das Theater Bonn hatte LaBute in der vergangenen Spielzeit im Programm und konnte das Publikum mit „Wie es so läuft“ fesseln. Jetzt hatte Neil LaButes neues Stück „Helter Skelter“ Premiere, ein Einakter, der mit zwei weiteren Einaktern auf abendfüllende Länge gebracht wurde.

 

Um es vorweg zu nehmen: Die Uraufführung, „Helter Skelter“, ist das am wenigsten schillernde der drei Stücke. Wie ein ungebremster Zug fährt es in die Katastrophe. Ein Mann und seine Frau treffen sich in einer Bar nach den Weihnachtseinkäufen, sie hochschwanger, er merkwürdig schlecht gelaunt, als sie nach seinem Handy fragt. Es ist der Tag, an dem sie herausfindet, dass er seit sechs Jahren ein Verhältnis mit ihrer Schwester hat. Und es ist der Tag, an dem sie zur modernen Medea wird und das eigene Kind im Leib umbringt. Aus dem Gefühl heraus, einem außergewöhnlich großen Verrat eine angemessen außergewöhnliche Antwort geben zu wollen:
„Daran glaube ich nicht mehr, an diese Lügen. Ich glaube, wir sind außergewöhnlich... Aber tun wir es? Nageln wir unsere Forderungen an eine Kirchentür, damit wir gehört werden?“ Während die Frau durch die neu entdeckte Macht des Großen, Großartigen selbstbewusste Gelassenheit gewinnt, redet sich der Mann, Yorck Dippe, mit den banalsten Allgemeinplätzen selbst ins Unglück und wird dann vollends zum leidenden Zuschauer degradiert.

Überhaupt wirken Neil LaButes Männer-Figuren häufig unterkomplex. So wie in jenem Zwei-Personen-Stück, das kurz nach dem 11. September 2001 entstand. Sie hat frühmorgens Termin für eine Abtreibung, er ist verkatert auf dem Weg ins Büro im World Trade Center, sein emotionales Unvermögen auf flapsige Art wegredend. Sie werden sich nie wieder sehen. LaButes doppeltes Erinnerungsprotokoll dieses Tages aus dem „Land der Toten“ schockiert nicht nur wegen seines Plots, sondern weil es den Zuschauer zwingt, die Geschichte vom Ende her neu zu denken. Und sich, wie schon in „Helter Skelter“ zu fragen: wann werden Entscheidungen gefällt, und mit welchen Konsequenzen?!
Birte Schrein und Andreas Maier sind nur als Gesichter präsent, die von zwei Scheinwerfern aus der völligen Dunkelheit geschnitten werden. Die kleine Werkstatt-Bühne wirkt hier wie eine Gruft, aus deren Tiefe nur die Stimmen dringen. Das nimmt dem Text die Leichtigkeit, die er auch hat. Aber es verdichtet ihn auf die Themen, die LaBute immer wichtig sind: die bewusste oder unbewusste Gewalt am Anderen, die Wahrheitssuhe durch Erinnerung, das Schuldig werden, die Beichte.

 

LaButes Stücke funktionieren höllisch gut in ihrer Mischung aus Kurzkrimi und kathartisch wirkendem „well made play“. Die nur scheinbar alltäglichen Dialoge sind sorgfältig gewartete Enthüllungsmaschinen, in die der Autor gerne auch ein paar Ebenen mehr einzieht, wie in „Ich mag dich wirklich“: So perfekt wie perfide tritt Roland Riebeling aus seiner Rolle, um sich mit Geplänkel über die „4. Wand“ und das Illusionstheater ans Publikum zu wenden. Ansonsten spielt er einen angeblichen Studenten, der gerade dabei ist, seine Internet-Bekanntschaft (natürlich wieder Birte Schrein) „live“ zu treffen, was das Prinzip von Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit noch um eine Ecke weiter dreht, denn das Internet ist der Ort an sich für Möchtegern-Biographien:
„Sie glauben jetzt, das geht aber echt geschwätzig los, oder wann hält der Typ das Maul, aber Sie sind auch ziemlich sicher, dass ich ein Schauspieler bin, und das hier ist alles erfunden und gehört dazu. Das sehe ich aber völlig anders. Also: ich bin hier, gleich kommt die Frau, und wir werden einen tollen Abend miteinander verbringen. – Merken Sie, wie schwammig das werden kann, diese ganze Illusions-Nummer, wenn wir mal drüber nachdenken?“


„Was wäre wenn...?“ Die Frage wird in diesem dritten Einakter, der in Bonn erstmals auf Deutsch zu sehen ist, am konsequentesten und am härtesten gestellt. Sind wir gerade in einem Theaterstück, oder beobachten wir nicht doch einen kaltblütigen Mörder bei der Vorarbeit? Mit „Ich mag dich wirklich“ nähert sich LaBute allerdings dem französischen Theaterphilosophen und Erfolgsautor Eric-Emmanuel Schmitt: als Entertainer, als Pseudo-Aufklärer – und als ein leicht übergriffiger Theater-Pädagoge. (Wenn das Publikum aufgefordert wird, die Show als real zu nehmen, und die Frau zu retten!) Das muss aber nicht gegen ihn sprechen. Es geht hier nicht um philosophische Volkshochschule, sondern immer um ein ebenso flirrendes wie höchst amüsantes Spiel am Abgrund. Neil LaBute und Bonn, das scheint nach „Wie es so läuft“ die nächste Erfolgsgeschichte zu werden.

 

Von Karin Fischer

 

 

 

Deutschlanradio, 8 Februar 2007

 

Ein Gespräch mit Stefan Keim:

 

Neil LaBute ist Jahrgang 1963, er wurde in Detroit geboren. Er ist Autor und auch Filmregisseur. Seine Theaterstücke werden in Europa ziemlich viel aufgeführt. Im vergangenen Jahr zum Beispiel kam sei Stück „Wie es so läuft“ in Bonn auf die Bühne. Jetzt am selben Ort wieder drei Werke von ihm, darunter eine Uraufführung. Wie kommt es, Herr Keim, zu dieser engen Zusammenarbeit?

Stefan Keim:
„Wie es so läuft“ war der Auslöser für diese Geschichte, denn eine der Schauspielerinnen, Birte Schrein – das war eine sehr erfolgreiche Aufführung und auch sehr gut besprochen – hat einfach dem Neil LaBute mal eine Email geschickt, über den Verlag, und hat ihm geschrieben, ganz naiv, dass dieses Stück gut läuft, und dass sie alle sehr viel Spaß damit haben. Sie hätte nie damit gerechnet, wirklich eine Antwort zu kriegen, bzw. das, was eben dabei ‘raus kommt und ‘raus gekommen ist. Neil LaBute hat dann drei Tage später sofort geantwortet und es entspann sich so etwas wie eine Brieffreundschaft, aber eben auf elektronischem Wege, über Email. Und irgendwann hat sie ihm dann später gemailt – die haben sich dann zwischendurch beim Filmfestival in Venedig auch mal getroffen – sie hat ihm dann irgendwann gemailt, dass sie schwanger ist, dass sie deswegen ihre Rolle in „Wie es so läuft“ abgeben musste und dass sie so gerne spielen möchte, aber einfach gerade keine Rollen kriegt mit dem Bauch. Und dann hat Neil LaBute ihr zurückgemailt: weißt Du was, dann schreib ich Dir einfach ein Stück, und hat Wort gehalten, und das ist eben „Helter Skelter“, und weil das für einen ganzen Abend nicht ausreichte, hat er dann noch eine deutschsprachige Erstaufführung nachgereicht, also noch ein weiteres Stück ‘rübergeschickt, das die Bonner dann eben auch selber übersetzen mussten, ebenso wie „Helter Skelter“, weil das noch gar nicht hier verlagstechnisch erschlossen ist. Und so haben wir eben heute eine Uraufführung und eine deutschsprachige Erstaufführung von Neil LaBute in Bonn gesehen.

Drei Werke eines Autors an einem Abend. Hängen die Stücke zusammen? Gibt es so etwas wie ein gemeinsames Thema?

Stefan Keim:
Ja, es gibt das gemeinsame Thema: Schwangerschaft und Kinderkriegen. Also auch schon im ersten Stück „Land der Toten“ – das war eine Reaktion auf den Terroranschlag, den berühmten, auf das World Trade Center – da geht es um eine Abtreibung. Und es ist ja immer wieder so bei Neil LaBute: diese Stücke fangen ganz harmlos an, man lernt eigentlich ganz nette Leute kennen, die miteinander plaudern, und irgendwann kommt dann aus dem Alltag so der Abgrund hervor, und meistens enden diese Stücke ganz fürchterlich in Tragödien. Ganz ähnlich ist es auch in der deutschsprachigen Erstaufführung „Ich mag dich wirklich“, da haben sich zwei Leute im Internet kennen gelernt und verabreden sich. Sie ist auch in diesem Stück schwanger. Und es hat die ganze Zeit so eine zweite Ebene, dass der Mann auch immer wieder ins Publikum redet, also die vierte Wand durchbricht. Das macht der Schauspieler Roland Riebeling übrigens auch ausgesprochen charmant und witzig. Und dass er da auch eine schwangere Frau plötzlich trifft, das macht ihm auch überhaupt nichts, und am Schluss, ja, lässt er deutlich – ich möchte die Pointe nicht verraten – aber lässt er deutlich erkennen, dass hinter diesem netten Plauderer sich wirklich das ganz ganz Böse verbirgt. Ja, und bei „Helter Skelter“, diesem ganz neuen und jetzt speziell für Birte Schrein geschriebenen Stück, da erleben wir ein Ehepaar, da sich in einem Restaurant trifft, die haben gerade vorweihnachtliche Einkäufe gemacht, bzw. sie hat das gemacht, und sie haben sich dann im Restaurant verabredet. Und weil er ihr plötzlich sein Handy nicht rausrücken will, damit sie mal zu Hause bei den schon vorhandenen Kindern anrufen kann, da gibt es dann plötzlich einen Ehekrach, der dann am Schluss, ja, in einer griechischen Tragödie endet.

Drei Regisseure haben diese drei Stücke dieses amerikanischen Autors inszeniert, sind auch drei unterschiedliche Handschriften zu sehen?

Stefan Keim:
Nein, die haben sich da sehr aufeinander eingespielt, haben wohl auch durchaus so ein bisschen übergreifend zusammengearbeitet. Sie müssen wissen, dieses Stück ist ja so spontan entstanden, dieser Abend, dass das auch in den Spielplan des Theaters kurzfristig eingeschoben werden musste. Die hatten also keinen Etatansatz, drei Regieassistenten, und die haben ganze Arbeit geleistet, das sind keine Regieassistenten mehr, das sind Regisseure: Jens Kerbel, Stefan Heiseke, Jennifer Whigham haben diese drei Stücke inszeniert, in so einem grau ausgeschlagenen Bühnenbild, ganz unaufwendig, ganz auf den Text, ganz auf die hervorragenden Schauspieler konzentriert. Und sie haben es geschafft, diesen Abend atmen zu lassen: also, es ist wirklich genau das richtige Timing, genau der richtige Rhythmus und genau das richtige Gespür für den Punkt, wo der Blick auf die Menschen sich verändert, wo eben in einem ganz normalen Menschen – und das ist ja so eine Hauptthese von Neil LaBute in allen seinen Stücken – wo in ganz normalen Menschen plötzlich tragische Dimensionen offenbar werden.

Also eine schöne Entstehungsgeschichte dieses Theaterabends und dann auch sehr gut durchgeführt...

Stefan Keim:
Eine ausgezeichnete Inszenierung, und es sind auch wirklich vier der besten Schauspieler aus Bonn auf der Bühne: Birte Schrein in allen Stücken, und eben Andreas Maier, Roland Riebeling und Yorck Dippe, das sind die drei Männer. Die Männer kommen bei Neil LaBute meistens nicht so furchtbar gut weg. Und es ist dann eine große Kunst, wie das Yorck Dippe als Ehemann in „Helter Skelter“ eben schafft, dass man so einen, ja eigentlich so ein Würstchen, so einen wirklich läppischen Kerl, einen langweiligen Menschen, dass man den eben so spielt, dass der nicht langweilig rüberkommt, also schwache Typen stark spielen, das haben wir an dem Abend gesehen, es ist rundum wirklich ein erfreulicher Theaterabend geworden.

 


 

Die Tageszeitung, 9 Februar 2007

Alltag als Katastrophe

Nichts für zarte Gemüter: Das Bonner Theater reiht drei nagelneue Einakter des US-amerikanischen Autors Neil LaBute aneinander, als gelte es, die Selbstmordrate bei den Zuschauern zu steigern

Geht es nach Neil LaBute, endet der Alltag gewöhnlich in einer Katastrophe biblischen Ausmaßes. Egal wie harmlos seine Stücke beginnen, dem US-amerikanischen Erfolgsautor gelingt immer wieder die unverhoffte Wendung ins Tragische. Bei seinen neuesten drei Einaktern begann alles mit einer Email der Schauspielerin Birte Schrein. Die angehende Mutter schrieb ihm, dass sie gerne bis zur Niederkunft weiter Theater spielen würde. Aber selbst die Rolle im jüngst gefeierten LaBute-Stück „Wie es so läuft“ musste sie abgeben. LaBute, ganz charmant, textete der Akteurin einen eigenen Text mit schwangerer Hauptfigur.

 

Diese Liebeswürdigkeit heißt „Helter Skelter“ und beginnt im Werkstatt-Theater auf der Rückseite des Bonner Opernhauses gewohnt unspektakulär: Eine Frau und ein Mann treffen sich in einem Restaurant, besprechen ihre Weihnachtseinkäufe. Man redet über die Kinder und dies und das. Alles unverfänglich, wäre da nicht das Handy des Göttergatten mit den verräterischen Telefonnummern. Auch wenn er das mobile Kommunikationsgerät geschickt in die Brüche gehen lässt – seine Frau hat Blut geleckt. Die Wahrheit kommt ans Licht: Seit sechs Jahren betrügt er seine Frau. Aber deshalb müsse sie ja jetzt keine Szene machen. Doch daran denkt eine LaBute-Figur nun mal als Letztes.

Birte Schrein hält ihren Kopf erst demütig gesenkt. Doch in ihrem weißen Kleid mit ebensolchen Handschuhen steigert sie sich langsam aber zielsicher in Richtung Wahnsinn. Hier eine Träne, da ein hysterisches Lachen – je mehr herauskommt, desto erhobener ihr Haupt. Wie ein patziges Mädchen lässt sie alle Ausflüchte abprallen, bis sie sich ein Messer gemächlich, fast eine Spur zu gemütlich, in den gewölbten Bauch sticht. Der hilflose Ehemann rutscht langsam aus seiner ekelnhaften Selbstsicherheit in einen ängstlichen Buben, verharrt in Schockhaltung.

 

Die Abtreibung in „Land der Toten“ findet dann medizinisch statt. Als die Frau aus der Klinik kommt, ist ihr Partner – der eigentlich kein Kind wollte – im World-Trade-Center ums Leben gekommen. An einem Tag verliert die Frau zwei Menschen. Von ihm ist nur eine Nachricht auf der Mailbox ihres Handys geblieben, die sie sich immer wieder anhört. Birte Schrein spielt auch hier die Hauptrolle, vergießt eine Träne nach der anderen. Nur ihr Gesicht ist erleuchtet, von ihrer Schwangerschaft nichts zu sehen. Neben ihr steht Andreas Maier, der als Toter seine Erinnerungen beisteuert.

 

Der dritte Einakter „Ich mag dich wirklich“ kommt fröhlich daher. Roland Riebeling geht wie ein Stand-up-Comedian auf und ab und unterhält das Publikum. Er reicht einem Zuschauer zum Aufpassen eine Wasserflasche, zieht den einen oder anderen ins Gespräch und diskutiert die Frage, ob das hier Theater sei oder nicht. Das amüsiert und vergrößert gekonnt die Fallhöhe, aus der der Zuschauer hinunter kracht, als sich der junge Mann auf der Bühne als mädchenmordender Vergewaltiger zu erkennen gibt. Sein Opfer ist natürlich wieder Birte Schrein, die als freche, hypernervöse und gnadenlos naive Göre dem Triebtäter auf den Leim geht.

 

Die Bühne von Gesine Kuhn ist für alle drei Stücke mit (alltags-)grauem Filz ausgeschlagen, auf dem die den schrecklichen Teil der Wirklichkeit extrahierenden Szenen abgedämpft werden. Wie zwei hereinbrechende Tsunami-Wellen biegen sich die Seitenwände – einer Skateboard-Teststrecke gleich –, die bedrohlichen Aspekte der Handlung vorwegnehmend, in die Richtung der Schauspieler.

 

Von Heiko Ostendorf

 

 

 

Frankfurter Allgemeine, 9 Februar 2007

Bauchüberkopf

Paargeschichten mit Kinderfolgen und eine Uraufführung von Neil LaBute am Schauspiel Bonn

Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze, und so ist es das höchste der Gefühle, wenn ein Dramatiker ein Stück für ihn schreibt. Was selten genug vorkommt, ist Birte Schrein widerfahren. In Bonn war sie in der deutschen Erstaufführung von Neil LaButes „Wie es so läuft“ so glücklich, dass sie dem Autor eine E-Mail schickte. Daraus wurde eine Korrespondenz, es kam zu einem Treffen, bei dem die Schauspielerin dem Schriftsteller auch sagte, dass sie, da sie schwanger sei, die Rolle nicht mehr lange spielen könne und demnächst umbesetzt werde. Neil LaBute sah sich herausgefordert und schrieb ihr ein Drama auf den gewölbten Leib, in dem sie bis kurz vor der Niederkunft auftreten kann. Bis hierher könnte das auch der Stoff eines seiner Stücke sein.

 

Eilends wurde der Text für die unverhoffte Uraufführung übersetzt, nur für den Titel reichte es nicht mehr: „Helter Skelter“, zu deutsch etwa Hals über Kopf. Doch abendfüllend ist dieser Schnellschuß nicht. Und so hat das Schauspiel Bonn zwei andere Einakter LaButes davor und die Trilogie in eine von Gesine Kuhn mit neutraler Eleganz gestaltetes Passepartout gesetzt: Paargeschichten mit Kindesfolgen, erwünschten und verhinderten, Mittelklassekatastrophen, die sich unter drei verschiedenen, doch ähnlich unauffälligen Regiehänden wie Dominosteine aneinanderfügen und in denen Birte Schrein mit wechselnden Frisuren, Kostümen und Partnern den siebten Monat „produktiv“ machen kann. Schauspielkunst – die bessere Schwangerschaftsgymnastik?

 

Im „Land der Toten“, das Jens Kerbel streng wie ein Spiel von Beckett inszeniert, ist von der Beziehung nichts übrig als die Nachricht, dass sie „das Ding“ doch behalten könnten, auf ihrer Mailbox. Doch zu spät, sie hat das Kind abgetrieben, und er ist in den Twin Towers am 11. September 2001 ums Leben gekommen. In „Ich mag dich wirklich“, dem Stefan Heiseke zur deutschen Erstaufführung verhilft, darf der Mann, der sich mit einer jungen Frau zum blind date trifft, immer wieder aus der Rolle treten und dem Publikum anbieten, die schlimmstmögliche Wendung zu vereiteln: Pirandello für Anfänger, was Roland Riebeling als „junger Mann“ nur allzu selbstgewiss bestätigt.

 

„Helter Skelter“ verknüpft die Spiel- und Reflexionsebene geschickter und bleibt doch simpel gestrickt: Zur Abwechslung legt LaBute der Frau hier seine Poetik in den Mund, nach der „Leute wie du und ich und all die anderen“ plötzlich sich in einer Situation wiederfinden können, die sie groß und interessant, aus der lieben Mammi eine rasende Medea und aus einer Trivialität eine Tragödie werden lässt.

 

Und so kommt es dann auch: Die Frau stellt ihren Mann im Restaurant, in dem sie sich nach den Weihnachtseinkäufen treffen, lässt ihn am Handy, das er ihr nicht leihen will, zappeln, spricht ihn darauf an, dass er sie mit ihrer Schwester betrügt, und wird unvermittelt zur Rächerin, die sich das Steakmesser in den schwangeren Bauch rammt. Birte Schrein spielt das in Jennifer Whighams Regie so reich schattiert zwischen Enttäuschung und Entschiedenheit, Ratlosigkeit und Ranküne, verletzter Würde und kühler Verachtung, als wollte sie sich (hat sie, was ihre Privatsache bleiben sollte, erst mal hinter sich) für bessere, größere Rollen empfehlen. Auch von Autoren, denen sie nicht (mehr) schreiben kann.

 

Von Andreas Rossmann

 

 

 

Süddeutsche Zeitung, 9 Februar 2007

Jetzt bloß kein griechisches Drama!

„Helter Skelter“ von Neil LaBute – uraufgeführt nicht am Broadway, sondern in Bonn

Die Adresse der „Werkstatt“, der Studiobühne des Bonner Theaters, klingt so herrlich piefig und stadttheaterprovinziell, dass sie das Haus zu dem lokalpatriotischen Wortspielslogan inspirierte, „nicht am Broadway, sondern Am Boeselagerhof 1“ finde die Uraufführung des neuen Neil LaBute statt. Tatsächlich erstaunt es, dass der beliebteste lebende US-Dramatiker ein Werk ausgerechnet in Bonn zur Weltpremiere bringt. Zwar ist „Helter Skelter“ – anders als „Bash“, „Tag der Gnade“ oder „Das Maß der Dinge“ – kein abendfüllendes Drama, sondern nur ein zielstrebiger Einakter. Doch der Stolz des Theaters hat noch einen Grund: LaBute schrieb das Stück eigens für die Bonner Schauspielerin Birte Schrein. Sie hatte ihm letztes Jahr bei den Proben zu seinem Stück „Wie es so läuft“ eine begeisterte E-Mail geschrieben, worauf er sie zu einem Treffen nach Venedig lud. Ihr Reisemitbringsel: der Plan für „Helter Skelter“.

 

Das Stück ist, wie oft bei LaBute, eine punkt- und kommagenau dem Mittelklassevolksmund abgeschaute Alltagssituation. Ein Paar macht Verschnaufpause vom Shopping: „Setz dich mit jemand, den du liebst, in ein schickes kleines Restaurant und beklag‘ dich über Gott und die Welt.“ Doch bald sind wir inmitten handfester Beziehungsprobleme, als sie ihm eröffnet, ihn vorhin beim Date mit ihrer Schwester beobachtet zu haben, worauf er gesteht, dass das schon sechs Jahre so geht. Natürlich sei das nur „körperlich“, halt „einfach passiert“ und auch „nur ein keiner Teil von mir“, weshalb er glaube, sie beide „können das schaffen“. Yorck Dippe ist dabei ein so rauschender Vorabendserienphrasenwasserfall, sprudelnd statt triefend, dass man ihm die gönnerische „Ich will nicht, dass du das auf dich nimmst“-Venunft ernsthaft abnimmt. Nur hat er die (Ab-)Rechnung ohne seine Gattin und ohne LaBute gemacht.

 

Der verpasst der, bis dahin recht konventionellen, Krisenkonversation nun nicht nur einen allgemeinmoralischen Anstrich, sondern auch eine richtig theatrale, kathartische Wendung – entgegen der scheinbar beiläufigen Bitte des Mannes, „dass das hier keine Riesensache wird, okay? Irgend so’n griechisches Drama...“ Jetzt ist sie an der Reihe, Birte Schrein, die sich in großer Garderobe schluchzend und mit gezügelter Sinnlichkeit auf dem Stuhl drapiert. Statt aufzustehen und zum Anwalt zu gehen, will sie es selbst beenden: „Spektakulär. Angemessen.“ Einmal zu „den anderen“ aus den TV-News gehören, denen immer die Katastrophen passieren, selbst Medea sein oder wenigstens ein Charles-Manson-Mädchen, die in den 60ern für den Sektenchef Prominente ermordeten, im Namen seiner „Helter Skelter“-Rassenideologie, benannt nach einem Beatles-Song. Genauso unverhofft, „holterdipolter“, greift sie nun zum Steakmesser – und sticht sich langsam in den hochschwangeren Bauch.

 

Diese Turbodrehung hin zur zynischen Allegorie auf pathetisch-pathologische Aufmerksamkeitssinnsuche ist LaButes Überraschungscoup: unmerklich vorbereitet, kaum psychologisch begründet. Genau das wagt aber die junge Regisseurin Jennifer Whigham. Sie verweigert das Dialogpingpong, drosselt das Tempo. Birte Schrein reagiert nicht schlag-, eher schlangenartig: mal Boa Constrictor mit tödlicher Gewissheit, mal Blindschleiche, total neben der Spur. So wird aus ihrem Affekt Plan und Spleen, aus LaButes Effekt Plausibilität.

 

Auch Jens Kerbel will LaBute seinen Plauderton austreiben in „Land der Toten“, das den Abend eröffnet: ein dramatischer Schnellschuss zum 11. September, der von der Idee zehrt, dass ein Paar eine Abtreibung beschließt, doch als sie in der Praxis ist, überlegt er es sich anders, sein Mailbox-Anruf erreicht sie aber zu spät, als er bereits in den Twin Towers umgekommen ist. In einer Grabdunkelkammer mit zwei porträtgroßen, göttlich strahlenden Lichtfenstern von Gesine Kuhn stehen Andreas Maier und Birte Schrein und erzählen von diesem Tag – er: gewiefter Gefühlspragmatiker mit brüchig aufblitzender Autosuggestion; sie: konstant tränenüberströmte Traumatisierte – der statische Versuch einer theatralen Überhöhung, die der Text aber nur bedingt (ver-)trägt.

 

Aufatmen, auflachen – und auch noch aufschrecken – lässt einen die deutschsprachige Erstaufführung von „Ich mag dich wirklich“. Da schlendert ein Collegeboy-Smiley herein und räumt auf äußerst unterhaltsame und gar nicht dumme Art erst mal mit dem Theatergefasel von der Vierten Wand auf, vom Glauben an Illusion oder den Zweifel daran, und stellt die Zuschauer vor die banale Frage: „Ich stehe hier vor Ihnen. Es ist wahr. Also bin ich deshalb jetzt Schauspieler oder einfach ein Typ, der auf dieses Mädchen wartet?“

 

Was klingt wie Theaterkabarett, ist es auch, und Roland Riebeling macht genüsslich den Kerkeling-Komiker und Stand-Up-Animateur; aber dass darin weit größere Fragen stecken, wird in Stefan Heisekes inszenierung auch klar. Es geht um Lüge und Selbstbetrug und um die Frage, welche Macht das Wissen um Wahrheit über andere bedeutet – verkörpert in einem Mann, hinter dessen Ranschmeißer-Charme bei Riebeling auch stets psychopathische Züge aufblitzen. Er spielt ein Vexierspiel mit dem Vertrauen der Frau – einer Bekanntschaft aus dem virtuellen Web, die Birte Schrein zu einem All-American-Grinse-Girl überzeichnet mit irritierenden Aussetzern, als wisse auch sie mehr, als sie sagt – und den Erwartungen der Zuschauer, die er kurzerhand in seine Pläne einweiht, die Frau zu ermorden. Falls sie nicht eingreifen...!

 

Dass dieses schnelle Stück über Manipulation mit dem Liebesbekenntnis „Ich mag dich wirklich“ endet, gehört zur Perfidie Neil LaButes. Dass sich der Satz des Mannes „Vielleicht denken Sie später noch mal drüber nach“ einlöst, ist das Verdienst dieses Abends.

 

Von Vasco Boenisch

 

 

 

Die deutsche Bühne, April 2007

Biblische Alltagsdramen

Neil LaButes Uraufführung „Helter Skelter“ in Bonn

Neil LaBute ist ein Meister darin, die Abgründe der sozialen Keimzelle mit boulevardhaft leichter Sprache zu biblischer Wucht zu vedichten. Dass der New Yorker ausgerechnet für das Theater Bonn sein neuestes Stück schrieb, erklärt sich durch seine Brieffreundschaft mit der Bonner Schauspielerin Birte Schrein, die er dort in der Inszenierung von „Wie es so läuft“ gesehen hatte. Als sie schwanger wurde und ihm schrieb, es fehle im Theater an Rollen für Schwangere, schrieb ihr Neil LaBute ein Stück auf den nun hochschwangeren Leib – sechs Wochen kann sie es wohl noch spielen. In „Helter Skelter“ – ein Beatles-Lied, das als Urinspiration von Heavy Metal und auch des Mörders Charles Manson gilt – kommt die Ehefrau mit Einkaufstüten und einem Hochzeitskleid in das Restaurant, in dem gleich ihr Leben zusammenbrechen wird. Sie weiß es schon, und wie sie kühl sezierend, unheimlich flackernd und mit nur mühsam zusammengehaltener Fassung ihren jämmerliche Ehemann vorführt, der sein Handy vor ihr verbergen will und sie sechs Jahre lang mit ihrer Schwester betrogen hat, ist eine schauspielerische Glanzleistung. Jede seiner ausweichenden Phrasen katapultiert die beiden weiter auf unterschiedliche Menschheitshöhen: Die verletzte Rachegöttin und das Würstchen, das der Schauspieler Yorck Dippe dabei zum Glück keineswegs verrät. Eine alltägliche, jämmerliche Demütigung, die nach apokalyptischer Vergeltung verlangt – bis zum Schluss zittern wir ihr entgegen (Regie: Jennifer Whigham).

 

Neil LaBute schickte noch ein Stück nach Bonn. Das bisher in Deutschland nicht aufgeführte „Ich mag dich wirklich“ ist eine perfide Befragung von Theaterillusion und Realität, inszeniert von Stefan Heiseke: Ein weichgesichtiger College-Student (Roland Riebeling) hat eine Kontaktanzeige im Internet veröffentlicht. Oder ist er nur ein Schauspieler, der das getan hat? Wann und wie wird der Schauspieler zum College-Boy, und inwiefern sind auch Phantome im Netz nur Lebensschauspieler – die sich vielleicht als Mörder entpuppen? Schüchtern und hastig lachend gesteht das „Date“ Birte Schrein, dass sie in Wirklichkeit auch ganz anders heißt – Schein und Sein sind im Netz nicht zu unterscheiden. Riebeling durchbricht kaltblütig und grandios die vierte Wand, indem er den Zuschauern Wasserflaschen zuwirft oder sie bittet, durch Zurufen den geplanten Mord zu verhindern, der aber natürlich auch Illusion ist. Dass man überhaupt darüber nachzudenken beginnt, ist bestechend.

 

Der dritte Einakter, „Land der Toten“ und Neil LaButes erste Reaktion auf den 11. September, wurde bereits 2002 in Bochum uraufgeführt. In Bonn wird es von Jens Kerbel als pathetisches Sprachgedicht im Halbdunkel gehalten: man sieht nur die beleuchteten Köpfe. Während der Mann (Andreas Maier) lässig-nonchalante Ausflüchte macht, rinnen bei Birte Schrein unablässig die Tränen. Eine geisterhafte, pathetische Rückschau: Die Frau hat durch zeitlich unglückselige Verkettungen Kind und Mann verloren. Als er ihr auf den Anrufbeantworter spricht, „das Ding“ behalten zu wollen, hat sie es bereits abgetrieben – und er ist bereits in den Zwillingstürmen verschwunden. In einer schlichten, filzbezogenen Halfpipe haben drei Jungregisseure drei völlig unterschiedliche Einakter inszeniert. Ein prickelnder und brillant gespielter Abend, ein Glücksfall für Bonn.

 

Von Dorothea Marcus

 

 

 

Theater heute, April 2007

Der Tod und das Pärchen

Uff, dieser Weihnachtsrummel. Schwer bepackt kommt die hochschwangere Frau zum Treffpunkt im Restaurant, während ihr Mann schon mal am Whisky nippt. Erschöpft lässt sie sich nieder. „Ich liebe es“, sagt sie und lächelt ihr sybillinisches Lächeln, das sie an diesem denkwürdigen Abend noch öfter lächeln wird. Sie hat ihr Handy nicht dabei; der Mann kann seines nicht finden. Die Frau hilft suchen. Ach, da ist es ja! Muss sich im Futter der Jacke verfangen haben. Jetzt fällt es hin und ist kaputt. Die Frau kann nicht mehr nachsehen, mit wem ihr Mann zuletzt telefoniert hat. „Mach doch keine griechische Tragödie draus“, meint der Mann.

 

Der Zuschauer ist also gewarnt. Nach und nach, just wie in einer solchen Tragödie, kommt die Wahrheit ans Licht. Die Person, mit der der Mann zuletzt telefoniert hat („Das ist jetzt peinlich für dich“, meint er), ist die Schwester der Frau. Seit sechs Jahren hat er ein Verhältnis mit ihr. Die Frau hat die beiden während ihres Einkaufsbummels gesehen. Der Mann versucht, sich wortreich zu erklären. Der Ehebrecher, das sei nur ein Teil von ihm. Der andere Teil sei nach wie vor der liebende, fürsorgliche Familienvater. Je mehr er redet, desto peinlicher wird es, und zwar für ihn. Die Frau weint nicht, obwohl ihr spürbar danach zumute ist; sie lächelt ihr sybillinisches Lächeln. Dann sagt sie, dass sie nie mehr mit ihrem Mann allein sein wolle. Dieser Abend der Enthüllung nach sechs Jahren des Betrugs solle angemessen, und das heiße: spektakulär enden. Sie nimmt das Steakmesser vom Tisch und stößt es in ihren schwangeren Leib.

 

Die drei Einakter von Neil LaBute, die in der Bonner Werkstatt zu sehen sind, beschreiben jeweils Paarkonstellationen mit tödlich endenden Konflikten. „Land der Toten“ erzählt von einem Geschäftsmann (Andreas Maier), der seine Frau zu einem Abtreibungstermin schickt, während er selbst in einem der Twin Towers (es ist der 11. 9. 2001) sein Leben verliert. „Liebling, wir können das Ding auch behalten“, war seine letzte Handy-Botschaft an die Frau. Die Gefühlskälte der Männer bei LaBute ist schon erstaunlich.

 

„Ich mag dich wirklich“ zeigt das Rendezvous eines Psychopathen (Roland Riebeling) mit einer naiven, übrigens ebenfalls schwangeren jungen Frau, die er im Internet kennengelernt hat. Gleichzeitig spielt dieser Text schelmisch mit der „vierten Wand“, deren Existenz der Psychopathendarsteller leugnet, indem er das Publikum wiederholt auffordert, den sich anbahnenden Sexualmord zu verhindern. Dieses Stück ist gewissermaßen das Scherzo zwischen den beiden schwergewichtigen Rahmenstücken; alle drei Einakter werden auf einer Bühne inszeniert, die lediglich aus einer mit Filz ausgeschlagenen Box besteht (Gesine Kuhn).

 

Das eingangs skizzierte „Helter Skelter“ hat der Autor der Schauspielerin Birte Schrein gewidmet, und wenn man den Bonner Abend sieht, weiß man, warum. Mit stupender Verwandlungsfähigkeit spielt Schrein sämtliche Frauenrollen und passt sich dabei wechselnden Partnern (zuletzt ist es Yorck Dippe) und Regisseuren (plus Inszenierungsstilen) fast mimikryhaft an. In Tränen aufgelöst und von einer erbarmungswürdigen Fragilität präsentiert sie sich in „Land der Toten“ (Regie Jens Kerbel). Als propere, „echt süße“ Strahlefrau sehen wir sie in „Ich mag dich wirklich“ (Stefan Heiseke). In „Helter Skelter“ schließlich, unter der Regie von Jennifer Whigham, changiert sie furios zwischen einer offenen Verletztheit und einer wachen, souveränen Ironie, mit der sie die Spielchen des Mannes decouvriert und der Lächerlichkeit preisgibt, ohne ihm letztlich den Todesstoß zu versetzen, den sie dann doch lieber – ach, die Frauen – sich selbst und ihrer Leibesfrucht zufügt.

 

Von Martin Krumbholz


 

 

Theater pur, April 2007

„Die Geschichte muß um jeden Preis erzählt werden, ob wir als Zuschauer sie nun mögen oder nicht.“

Das Bonner Theater kombiniert auf der Bühne der Werkstatt drei Einakter des wohl wichtigsten zeitgenössischen amerikanischen Dramatikers Neil LaBute über eine Achterbahnfahrt menschlicher Emotionen und Beziehungen. Jede der drei Paarbeziehungen birgt eine Katastrophe in sich und führt uns in die Abgründe der Seelen.

 

Im „Land der Toten“ sehen wir einen Mann und eine Frau in einigem Anstand voneinander stehen, nur die Gesichter, starr nach vorn gerichtet, sind mit einem Spot beleuchtet. Er: „Wow. Dieser Tag... Mann, was für ein Tag.“ Sie: „Den werde ich nie vergessen.“ Abwechselnd berichten sie, dabei nie direkt miteinander kommunizierend, von diesem Tag in New York im September 2001. Zwei Menschen vor einer wichtigen Lebensentscheidung: Sollen sie ihr Kind bekommen? Er ist ein Egozentriker, der nur von seinem Stress im Büro, von Geldsorgen und von Problemen mit der Frau redet. Sie dagegen, immer am Rande des emotionalen Zusammenbruchs, berichtet über den grauenvollen Gang zur Abtreibungspraxis. Immer noch unter Schock stehend berichtet sie von in Erinnerung geblieben Details („... die Schwester sagt...: ‚Sie haben sehr schöne Haare... und scheußliche Ohrringe.‘“) Ein Stück über Unsicherheit und Unklarheit, über Angst und fehlende Verständigung, über nicht wieder rückgängig zu machende Entscheidungen, kalt und ergreifend in Szene gesetzt von Jens Kerbel. Andreas Maier gibt den Zyniker, der sich vor seiner Mitverantwortung drückt („Sie kann sich frei entscheiden, ob sie das Baby behalten will oder mich.“) Birte Schrein überzeugt als traumatisierte junge Frau, die sich in dieser Lebenskrise allein gelassen fühlt.

 

Neil LaBute, geboren 1963 in Detroit, studierte Film- und Theaterwissenschaft u. a. an der University of Kansas und an der New York University. „Bash – Stücke der letzten Tage“ war 2001 laut Kritikerumfrage von Theater heute das beste ausländische Stück des Jahres. 2006 wurde LaBute zum besten ausländischen Dramatiker des Jahres gewählt (Theater heute). In seinen Theaterstücken interessiert er sich für die Idee der Sünde und dafür, womit Menschen ungestraft davonkommen. Eine Spur des Verrats zieht sich durch seine Geschichten, „... weil ich denke, das ist das Schlimmste, was zwischen Menschen passiert, besonders zwischen Menschen, die behaupten, einander gut zu kennen.“ Charakteristisch für LaBute sind die zahlreichen direkt an die Zuschauer gerichteten Monologe, „die vierte Wand ist ausschließlich dazu da, sie zu zertrümmern“ (LaBute). Das Publikum wird mit dem Unverhofften und Plötzlichen konfrontiert, das in einer Tragödie enden kann oder aus dem eine Katharsis folgt.

 

„Ich mag dich wirklich“ beschreibt eine Liebe in Zeiten des Internets. Zuerst lernen wir ihn kennen. Roland Riebeling gibt den smarten Jüngling im Tennis-Outfit, der unbefangen auf das Publikum einredet. „Es ist immer das Ding mit dem ‚Theater‘, oder? ... Sie können mich sehen und ich weiß, daß Sie da sind... Aber bin ich deshalb Schauspieler?“ Von Anfang an wird in Frage gestellt, was wirklich wahr ist, was Lüge, was Selbstbetrug ist. Will dieser wortreiche Komiker mit Animateurqualitäten wirklich die junge Frau umbringen, wie er behauptet? Kann das Publikum ihn daran hindern? Birte Schrein ist die Frau, die zum Date kommt, verlegen lächelnd, unsicher und sehr bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Die Geschichte kippt immer wieder. Man fühlt sich manipuliert und weiß nicht, wie sie ausgeht. Ist es ein harmloses Treffen oder sehen wir einen Psychopathen, der sein nächstes Opfer gefunden hat?

 

„Helter Skelter“, benannt nach dem Beatles-Song, wurde in Bonn als Uraufführung herausgebracht. LaBute schrieb diesen Einakter für die Schauspielerin Birte Schrein, die in Klaus Weises Inszenierung von „Wie es so läuft“ letztes Jahr mitgespielt hat. Sie schrieb eine begeisterte E-Mail an ihn, man traf sich und LaBute widmete ihr dieses Stück. Wieder steht eine Alltagssituation aus dem bürgerlichen Milieu im Mittelpunkt. Ein Ehepaar trifft sich nach dem vorweihnachtlichen Shopping-Trip in einem Restaurant. Lounge-Musik im Hintergrund, ein gedeckter Tisch. „Setz dich mit jemand, den du liebst, in ein schickes kleines Restaurant und beklag‘ dich über Gott und die Welt. So macht man das.“ So heißt das Rezept. Beide sind gestresst, sie ist hochschwanger, er beruflich sehr eingespannt. Doch dann bittet sie ihn um sein Handy, er gibt vor, es nicht zu finden – die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Sie konfrontiert ihn damit, ihn beim Rendezvous mit ihrer Schwester beobachtet zu haben. Er wiegelt ab und zeiht sich dabei auf lächerliche Aussagen zurück, um den Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen („Das ist doch nur ein kleiner Teil von mir. Ich bin ein guter Kerl.“, „Wir sind Menschen, die Fehler machen.“) Zur Krönung meint er: „Hey, Liebling, ich bins. Ich bin immer noch der Typ, den du geheiratet hast.“ Grandios Yorck Dippe als kleinlauter, phrasendreschender Kotzbrocken. Birte Schrein ist faszinierend zu beobachten. Fast wie in einem naturwissenschaftliche Experiment lässt sie ihren Mann in die Falle laufen, beobachtet ihn und reagiert dann ganz unerwartet: „Ich glaube, wir sind außergewöhnlich... in der Lage, so unglaubliche Dinge zu tun.“ Jennifer Whigham gelingt es, einen Spannungsbogen aufzubauen: vom behaglichen Smalltalk über eine Beziehungsdebatte bis zur abrupten Verlangsamung des Tempos mit dem schockierenden Ende.

 

Insgesamt ein Abend, der gut zwei Stunden fesselte, amüsierte, und, last but not least, nachdenklich stimmte. Jubelnder, langer Beifall für die Regisseure und die Schauspieler, Bravos für Birte Schrein. Sie war die herausragende Künstlerin des Abends.

 

Von Antje van Bürck

 

 

 

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An mein Kind

 

Dir will ich meines Liebsten Augen geben
Und seiner Seele flammenreiches Glühn.
Ein Träumer wirst du sein und dennoch kühn
Verschloßne Türen aus den Angeln heben.


Wirst ausziehn, das gelobte Glück zu schmieden.
Dein Weg sei frei. Denn aller Weisheit Schluß
Bleibt doch zuletzt, dass man hienieden
All´seine Fehler selbst begehen muss.


Ich kann vor keinem Abgrund dich bewahren,
Hoch in die Wolken hängte Gott den Kranz.
Nur eines nimm´ von dem, was ich erfahren:
Wer du auch seist, nur eines - sei es ganz!


Du bist, vergiß es nicht, von jenem Baume
Der ewig zweigte und nie Wurzeln schlug.
Der Freiheit Fackel leuchtet uns im Traume -
Bewahr´den Tropfen Öl im alten Krug!

 

(Mascha Kaléko)