Jens Kerbel

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Polly Stenham

 

THAT FACE - SZENEN EINER FAMILIE (DSE)
 
Deutsch von Barbara Neu 
 
 

Foto: Thilo Beu

 
Mia ist fünfzehn und besucht ein Internat in London. Ihr Bruder Henry, 18 Jahre alt, hat die Schule abgebrochen. Mit dem Vorwand, sich auf ein Kunststudium vorbereiten und zeichnen zu müssen, vegetiert er neben Martha, der alkohol- und tablettenabhängigen Mutter der beiden, in der Wohnung dahin. Martha, Tag und Nacht auf Drogen, mal überdreht berauscht, mal in dumpfem Dämmerzustand, klammert sich verzweifelt an Henry, erdrückt ihn mit ihren Gefühlen, die die Grenzen mütterlicher Liebe längst überschritten haben. Für die Tochter empfindet sie nichts als Eifersucht, denn auch Mia braucht Henry. Martha aber beansprucht ihn so sehr für sich allein, dass sie nicht spürt, was sie ihren Kindern zumutet und was sie ihnen nimmt. Als Mia im Internat einer jüngeren Mitschülerin in einem Aufnahmeritual Beruhigungsmittel verabreicht, die sie von Martha hat, alarmiert die Schule den Vater. Umgehend steigt Hugh in Hong Kong, wo er sich ein neues Leben aufgebaut hat, ins Flugzeug, und trifft zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder auf die zurückgelassene Familie. Was er vorfindet, entsetzt ihn zutiefst, und er fasst den Vorsatz, wiederherzustellen, was er für Normalität hält.
THAT FACE ist das erste Theaterstück von Polly Stenham, die bei der Uraufführung am Londoner Royal Court Theatre im April 2007 gerade 19 Jahre alt war. Es wurde das Erfolgsstück der Saison, Stenham über Nacht zum neuen Star der englischen Theaterszene, mit Autoren wie Sarah Kane oder Mark Ravenhill verglichen. Sie erhielt den Award for Best Play 2007 des Evening Standard. Derzeit arbeitet sie im Auftrag des Royal Court Theatre an ihrem zweiten Stück.
“Dies ist eins der erstaunlichsten Debüts, die ich in über dreißig Jahren Theaterkritik gesehen habe. Es ist in jeder Hinsicht ein bemerkenswertes und unvergessliches Stück.”
[Charles Spencer, The Telegraph]

 
 
Inszenierung: Jens Kerbel
Bühne: Jens Kerbel und Sigrid Trebing
Kostüme: Sigrid Trebing
Musik/Video: Lars Figge
Licht: Lothar Krüger
Dramaturgie: Michael Eickhoff
 
Mit: Anastasia Gubareva, Chiara Kerstan, Maria Munkert, Tatjana Pasztor, Oliver Chomik, Wolfgang Rüter

 
Premiere der deutschsprachigen Erstaufführung: Mai 2009, Theater Bonn


 
 
 

PRESSE:

 

General-Anzeiger, 29. Mai 09

 

Muttertier mit scharfen Krallen

 

Es steckt viel Herzblut in Polly Stenhams "That Face - Szenen einer Familie". Die englische Autorin war erst 19, als ihr Stück vor zwei Jahren am Londoner Royal Court uraufgeführt wurde. Es zeigt, dass nicht Stenham ihr Thema gefunden hatte - sondern das Thema sie.
"That Face" erzählt eine Familienzerfallsgeschichte. Nachdem sie von ihrem Mann verlassen wurde, klammert sich die dem Suff ergebene Martha (Tatjana Pasztor) an ihren Sohn Henry (Oliver Chomik). In den zerrütteten Verhältnissen, die Polly Stenham ausbreitet, spielen auch noch Tochter Mia (Maria Munkert) und Ex-Mann Hugh (Wolfgang Rüter) Hauptrollen: Einzelkämpfer auf dem Schlachtfeld Familie.

 

Viel Herzblut steckt auch in der Inszenierung von Jens Kerbel in der Werkstatt. Der Regisseur und seine Schauspieler haben wie die Autorin keine Hemmungen, die Traumata von Menschen abzubilden, die Wutanfälle und die Verletzungen, die sie sich zufügen.
Furios, erbarmungslos und drastisch geht "That Face" über die Bühne. Und doch gibt es immer wieder szenische Miniaturen von zarter Poesie, Sehnsucht-nach-Glück-Momente zwischen zwei Gläsern Bombay Sapphire. Der Gin ist gut in der Werkstatt.
Kerbel und Sigrid Trebing haben die Werkstatt wie einen Schlafsaal eingerichtet. Das passt, denn zuerst sehen wir Mia und ihrer Mitschülerin Izzy (Anastasia Gubareva) dabei zu, wie sie ein Mädchen (Chiara Kerstan) quälen. Das in englischen Internaten gepflegte Initiationsritual geht schief. Bereits hier wird eines der Leitmotive des Stückes etabliert: Der Mensch ist des Menschen Quälgeist.

 

Danach steht ein Bett im Mittelpunkt, in dem Mutter und Sohn ihre gegenseitige Abhängigkeit ausleben. Tatjana Pasztors Martha ist kein Psychotrick fremd. Mit verlaufener Wimperntusche unter den Augen spielt sie hyperventilierend die Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Dann sieht sie aus wie Alice Cooper an einem ganz schlechten Tag. Sie lockt und schmeichelt, aber sie kann auch kalt und bissig sein: ein Muttertier mit scharfen Krallen. Henry hat fünf Jahre in dieser Welt durchgehalten. Oliver Chomik spielt Henry als jungen Mann, der immer wie neben sich steht. Er ist zu einem Rollenspiel vor der Zeit gezwungen, kämpft jetzt schon die Kämpfe von Erwachsenen.
Ausdruck seiner existenziellen Krise sind die Mutter-Kleider, die er trägt, die geschminkten Lippen. Das ist mehr als Schwermut und Schminke, Henry ist das Geschöpf seiner Mutter. Desillusioniert wagt er immer wieder die Flucht, doch eine Erkenntnis bricht ihm das Herz: "Das ist mein Leben. Sie ist mein Leben."

 

Maria Munkerts Mia hat sich unter aller Grausamkeit etwas Kindliches bewahrt. In den Szenen mit dem Vater, den Wolfgang Rüter jovial und emotional entrückt verkörpert, wird die Diskrepanz zwischen Mias großer Klappe und ihrer Empfindsamkeit besonders deutlich.
Anastasia Gubareva kommt als Izzy zwischen die familiären Frontlinien. Da geht selbst diese forsche, dauerprovokante Blondine schnell unter.
Es hat etwas Gruseliges, diesen Menschen bei der Selbstzerstörung zuzusehen. Jens Kerbel und seinem Ensemble gelingt es, knallige szenische Pointen, psychische und physische Entblößung im Dienste des Stückes zu gestalten. Nichts ist hier Selbstzweck und ganz wenig Manierismus.
Lars Figge hat dem Ganzen mit Musik und Projektionen einen zeitgemäßen Rahmen gegeben. Der Schluss jedoch ist ganz altmodisch. Mit dem volkstümlichen Chanson "Au clair de la lune" verabschiedet sich Martha aus ihrem bisherigen Leben: "Ma chandelle est morte, je n'ai plus de feu." Licht aus, Ende offen.

 

Von Dietmar Kanthak




Kölner Stadtanzeiger, 29. Mai 2009

 

ERSTAUFFÜHRUNGEN
Abgerockte Familien


Die Stadt Bonn kann gleich mit zwei Erstaufführungen aufwarten: Vor allem „That Face“ der jungen Britin Polly Stenham überzeugte. „Blick auf den Hafen“ von Generalintendant Klaus Weise braucht etwas länger, um auf Touren zu kommen.
Ein Vormittag irgendwo in London: Mia und Izzy traktieren ihre Mitschülerin Alice mit einem Folterritual, verabreichen ihr eine lebensgefährliche Ration Valium. Mia fliegt von der Schule und muss zurück zu ihrer Mutter Martha, die nach der Scheidung dem Alkohol verfallen ist. Saufend verbringt sie ihre Tage im Bett, nur Sohn Henry steht noch zu ihr. Diesen allerdings erdrückt sie mit körperlicher Nähe. Als der aalglatte Vater Hugh zwecks Schadensbegrenzung in Nadelstreifen aus seinem neuen Leben in Hongkong einfliegt, ist er ebenso entsetzt wie überfordert.
„That Face“ ist das Bühnendebüt der heute 21-jährigen Britin Polly Stenham. In kräftiger Sprache skizziert die zurecht abgefeierte Autorin den Niedergang einer Familie: Realitätsnah. Schmerzhaft. Und mit Charakteren, die permanent gezwungen sind, ihre Sympathien füreinander in Frage zu stellen. Verbundenheit, Schutzbedürfnis, Mitleid, Enttäuschung und Bitterkeit halten die Kräftefelder in Bewegung. Ein probates Rezept für einen funktionierenden Plot.


Schnoddrig
 

 Stenham flirtet dabei mit einem modernen Klassiker: Eugene O'Neills „Eines langen Tages Abschied in die Nacht“. Die physische und emotionale Brutalität des Stücks aber erinnert an die Songs, die Rapper Eminem seiner Mutter gewidmet hat. Und mit ihrer schnoddrigen Sprache bewegt sich Stenham im Milieu von Kate Nash, Lily Allen und anderen weiblichen Popstars ihrer Generation. In der deutschsprachigen Erstaufführung gelingt Jens Kerbel für das Bonner Schauspiel eine exzellente Inszenierung. Mit schlüssigem Bühnenbild, sparsamen Multimediaeinspielungen, engagierten Darstellern und einem überragenden Oliver Chomik als Henry.
 

Würgegriff der Firma
 

Auch die jüngste Inszenierung von Generalintendant Klaus Weise fällt in die Gattung des Familiendramas. Der Amerikaner Richard Dresser allerdings fühlt den Superreichen des Landes auf den Zahn: „Blick auf den Hafen“ ist die Geschichte der Familie Townsend, deren Mitglieder sich nicht aus dem Würgegriff der eigenen Firma lösen können. Sie sind dazu verdammt, ein zwar privilegiertes, aber isoliertes Leben in vorgefertigten Rollen zu spielen. Bei einem Wiedersehen auf dem abgerockten Landsitz müssen sich alle gegenseitig gestehen, dass sie ihrer Existenz mittels Scheinidentitäten zu entkommen versucht haben.
Trotz des viel versprechenden Stoffs kommt das Stück nur langsam auf Touren. Die Bühne scheint leer. Die Charaktere wirken ein wenig steril, ihre Handlungen nicht immer plausibel und ihre Sprache scheint mitunter aufgesetzt. Erst als Vater, Tochter und Sohn zur Abrechnung mit der gemeinsamen Vergangenheit ansetzen, blitzt lebensnahe Leidenschaft auf. Im direkten Vergleich zu „That Face“, den das Schauspiel ja bewusst anbietet, ziehen Weise und Dresser deutlich den Kürzeren. Quantität und Qualität des Applauses bestätigen dies.

 

Von Ralf Johnen

 

 

 

Die Deutsche Bühne, 7/2009

 

Familienzusammenführung

 

Die deutschsprachige Erstaufführung von „That Face – Szenen einer Familie“

 

Polly Stenhams Debut-Stück „That Face“ wurde uraufgeführt, als sie gerade 19 war. Jetzt hat es Jens Kerbel in der Werkstatt des Theaters Bonn erstmals in Deutschland inszeniert:

Mia, 15 Jahre alt, hat mit einer Freundin eine Mitschülerin derart misshandelt, dass diese reaktionsunfähig im Krankenhaus liegt. Die Schule erreicht nur Mias Vater, der längst ein neues Leben mit einer anderen Familie in Hong Kong führt. Fünf Jahre nach seinem Weggang beschließt Hugh nun, sich zu kümmern. Während Mia dankbar dafür ist, erntet Hugh von seinem Sohn Hass und Spott: Henry ist gerade 18 Jahre alt und lebt mit seiner Mutter in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis hart an der Grenze zum Inzest: Sie ist alkoholabhängig und hält ihn damit an der kurzen Leine, er lebt im Stolz und in der Anstrengung, für seine Mutter zu sorgen. Die Verantwortung tragen hier die Kinder, und damit sind sie vollkommen überfordert.

 

Auf der Werkstattbühne gehen die Räume ineinander über: Internatsschlafsaal, Krankenhauszimmer, das Schlafzimmer von Mutter und Sohn. Matratzen liegen regelmäßig über den Boden verteilt, Elektro-Töne flirren unter den Auftritten. So gerät jede Szene in die Schwebe, die Figuren driften einsam durch den Raum. Oliver Chomik spielt Henry mit einer müden, aber unvermeidlichen Zähigkeit, die verständlich macht, warum das väterliche Eingreifen, die Drohung mit der Zwangseinweisung der Mutter, so furchtbar ist – fünf Jahre vertane Jugend verlieren ihren Sinn. Tatjana Pasztor stellt die schwierige Figur der Mutter – dauerbetrunken und erotisch angezogen von ihrem Sohn – nicht ein einziges Mal bloß. Alle Darsteller spielen gradlinig, schnörkellos, aber höchst sensibel. Am Ende ist die Familie zwar beisammen. Von Zusammenführung kann dennoch keine Rede sein. Eine quälend lange, vom Inszenierungsteam aber schlüssig gelöste Szene. Ein dichter, packender Theaterabend zu den Schrecken der Wohlstandsverwahrlosung ist das geworden. Keine Leichte Kost.

 

Von Christiane Enkeler

 

 

 

Antenne Koblenz, 22. Juni 2009

 

Kulturkritik: THAT FACE

 

Eine Bühne voller Bettdecken. Am Boden, an der Wand. Mittendrin ein Doppelbett, dahinter eine verschiebbare Hängekombination als Raumteiler mit diversen Flaschen alkoholhaltiger Getränke und anderem Kleinzeug. Was sich zunächst anhört wie die übrig gelassenen Reste einer Orgie in einem Nachtclub der übleren Sorte, ist das Bühnenbild des Stücks „That Face – Szenen einer Familie“ von der gerade mal 21jährigen Engländerin Polly Stenham, das gerade auf der Bonner Werkstattbühne seine deutsche Uraufführung gefeiert hat.

 

Der Inhalt ist so geradlinig wie die Emotionen intensiv: Mia, eine 15jährige Internatsschülerin, fliegt von der Schule, weil sie zusammen mit einer Mitschülerin eine jüngere unter Valium gesetzt und misshandelt hat. Zuhause wartet ihr 18jähriger Bruder Henry, der die Schule längst geschmissen hat, und ihre alkohol- und tablettenabhängige Mutter Martha, die nicht nur Henry mit dem erdrückt, was sie für Liebe und Nähe hält, sondern auch ihrer Tochter mit rasender Eifersucht entgegentritt, als die versucht, Henry das Leben außerhalb der Reichweite seiner Mutter zu zeigen.

 

Während sowohl Henry als auch Mia immer mehr darum kämpfen ein kleines Stück scheinbarer Normalität zu erhalten, erscheint ihr Vater Hugh wieder auf der Bildfläche, um die Dinge wieder zu ordnen, die er fünf Jahre zuvor für eine neues Leben in Hongkong zurückgelassen hat.

 

Jens Kerbels Inszenierung ist vor allem eines: grausam. Grausam ehrlich. Jede Aussage, egal wer sie macht, beginnt als Witz und endet als Ohrfeige für den, der zuvor gewagt hat zu lachen.

Und grausam gut. Gerade das Duo Henry und Martha, gespielt von Oliver Chomik und Tatjana Pasztor zeigt eine Intensität, wie man sie selten zuvor erlebt hat, genauso Maria Munkert als Mia.

 

Ein Theaterabend, der sicherlich nicht als reines Vergnügen anzusehen war, schon gar nicht für Liebhaber der leichten Unterhaltung.

Aber ein Theaterabend, der alles hatte, was ein Theaterabend haben muss, wenn er nicht nur gut, sondern überragend sein will.

 

Von Verena Ehrl

 

 

 

Theater Pur, 7+8/2009

 

Im Sumpf

 

Fotograf Thilo Beu hat für das Bonner Theatermagazin ein Bild geschossen, welches im Stück nicht vorkommt: Eine Familie, proper herausstaffiert, einträchtig lächelnd unter dem Weihnachtsbaum, dieser geschmückt mit einem großen Herzen. Nur der Vater macht ein ganz und gar ernstes Gesicht, aber Wolfgang Rüter gibt sich fast immer so. Weihnachten steht für Frieden. Die „Szenen einer Familie“, wie sie Polly Stenham in „That Face“ beschreibt, sind jedoch alles andere als friedlich. Der Vater hat sich in asiatischer Ferne ein neues Leben mit neuer Gefährtin aufgebaut. Sein Drang zu Ordnung und Sauberkeit dürfte in alten Zeiten nicht selten zu Unterdrückung geführt haben. Was die Zurückgelassenen an morbidem, lallendem, ziellosem „No future“- Gebaren an den Tag legen, muss allerdings auch einen moderateren Menschen als Hugh abstoßen.

 

Tochter Mia, in ein Internat abgedrängt, sieht man gleich zu Anfang mit „Freundin“ Izzy eine Mitschülerin quälen – Aufnahmeritual der grausamsten Art. Das verabreichte Valium aus der Hausapotheke ihrer Mutter hat Mia ziemlich großzügig dosiert…

Tabletten und Alkohol gehören zum ständigen Konsum von Mutter Martha. Einer versprochenen Entziehungskur hat sie sich immer wieder entzogen. Dem weichherzigen Sohn Henry bleibt nichts anderes übrig, als sich um Mamma zu kümmern. Doch nicht deswegen hat er die Schule geschmissen. Zwischen ihm und Martha besteht eine mitunter hassgeschwängerte Zuneigung, deren inzestuöse Färbung äußerlich dadurch angedeutet wird, dass Henry gelegentlich in Mamas Fummel schlüpft. Aber auch Mia klammert sich an ihn.

 

Polly Stenham, gerade mal 22, hat mit ihrem ersten Stück (an dessen Filmfassung sie gerade arbeitet) am Londoner Royal Court aufsehen erregt. Das Theater ist für sie eine ganz normale, ja unabdingbare kommunikative Institution, bevorzugt freilich mit einem „Off“-Etikett. Denn sie schreibt nicht gerade für die Upper Class. Bei ihr geht es um kaputte Typen (nicht aus dem Slum-Milieu allerdings), um nervenzerfetzende Beziehungskriege, um Verzweiflungen des täglichen Seins und manchmal auch um einen letzten Rest an menschlicher Würde. Martha geht am Schluss tatsächlich in eine Anstalt, der als „Retter“ aus Fernost angereiste Vater beendet seine Stippvisite, Bruder und Schwester bleiben alleine zurück (Ausgangssituation von Polly Stenhams vor kurzem uraufgeführtem Stück „Tusk Tusk“).

 

Die Bonner Werkstattbühne zeigt Schlafplätze, plastiksauber überzogen, als Zentrum das häusliche Lotterbett (Ausstattung: Sigrid Trebin, jens Kerbel). In diesem Wohlstandsmüll lässt Regisseur Kerbel kraftvolles, bei dem wunderbaren Oliver Chomik (Henry) sogar schweißtreibendes Theater spielen. Die Darsteller lavieren virtuos zwischen kotziger Großsprecherei und hingebungsvoller Zärtlichkeit. Eine Tonpalette bietet Tatjana Pasztor, die in der Martha ihre bislang wohl größte Bonner Rollenaufgabe gefunden hat und die Zerrissenheit der Figur im Wortsinn „hautnah“ vermittelt. Stark auch Maria Munkerts Mia. Bei dem lackierten Hugh des Wolfgang Rüter kommt einen fast das Fürchten an.

 

Von Christoph Zimmermann   

 

 

 

kultur – Das Magazin, Juni 2009

 

Familienszenen

That Face von Polly Stenham in der Werkstatt

 

Ihr erstes Stück wurde eins der erstaunlichsten Theater-Debüts der letzten Zeit. Die Engländerin Polly Stenham war 19 Jahre alt, als That Face 2007 mit großem Erfolg am Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt wurde. Seitdem gilt sie als eines der großen Talente der jungen britischen Dramatik. Es steckt viel Lebenskenntnis in ihrer Darstellung einer kaputten Familie. Die deutschsprachige Erst­aufführung von That Face hat der junge Regisseur Jens Kerbel sehr sensibel und mit glänzender Personenführung in der Werkstatt inszeniert.

 

Die weiße Kissenlandschaft (Bühne: Sigrid Trebing / Jens Kerbel) ist zunächst der Internatsschlafsaal, in dem Mia und ihre Klassenkameradin Izzy die Schülerin Alice (Chiara Kerstan) quälen. Eins der üblichen Initiationsrituale in britischen Internaten, allerdings sind die beiden etwas zu weit gegangen. Alice landet auf der Intensivstation, Mia soll die Schule verlassen. Ihr Vater, als erfolgreicher Makler mit neuer Familie in Hongkong tätig, hat den nächsten Flieger nach London genommen, um die Sache irgendwie zu regeln. Zumal die Schulleitung deutliche Zweifel an Mias häuslicher Situation geäußert hat.

 

Dort räkeln sich auf dem Bett Martha und der junge Henry. Er ist freilich nicht ihr Liebhaber, sondern ihr Sohn. Wobei Martha meistens so betrunken ist, dass sie die Realität kaum noch wahrnimmt. Tatjana Pasztor mit zerlaufener Wimperntusche und wechselnden schrillen Perücken liefert mit intensivem Körpereinsatz ein eindrückliches Porträt dieser alkohol- und tablettensüchtigen Frau. Völlig ausgeflippt, gelegentlich hyperventilierend, im Dauerdelirium rabiat zärtlich, brutal mütterlich, animalisch aggressiv und schamlos in ihrer selbstzerstörerischen Lebensgier. Henry steckt fest in ihrem Klammergriff. Oliver Chomik spielt wunderbar feinfühlig den überforderten, künstlerisch begabten Jungen, der längst die Schule geschmissen hat, um seiner Mutter nahe zu sein und ihren Zustand irgendwie unter der Decke zu halten. Maria Munkert ist der schnodderig selbstbewusste Teenager Mia. Hinter ihrer abgebrühten Coolness zeigt sie eine tiefe Verletzlichkeit.

 

Als freches, pralles Girlie Izzy glänzt Anastasia Gubareva. Izzy hat Sex mit Mias Bruder Henry in Papas schickem Docklands-Apartment, was Marthas Ginpegel hochschnellen lässt. Die Mädels tragen putzige Hi-Chucks mit kleinem Absatz (Kostüme: Sigrid Trebing). Natürlich haben sie das nötige Kleingeld für angesagte Klamotten und Drogen. Mias Vater Huch kann mit einer großzügigen Spende auch ihren Rausschmiss aus dem teuren Internat verhindern. Wolfgang Rüter spielt den eleganten Manager, der leicht angeekelt seine verwahrlose Erstfamilie betrachtet und das Beste für sie sucht. Klar: Die verrückte Martha gehört in eine Klinik, und die Kinder sollen wieder zur Schule gehen. Henry bricht schluchzend zusammen, wenn seine Mutter geht, für die er alles ihm Mögliche getan hat. Am Ende trägt er verzweifelt ihr Kleid und ihren Lippenstift. Wohin sie – das populäre französische Liedchen „Au clair de la lune” auf den Lippen – geht, bleibt offen.
Die schonungslose Aufführung geht jedenfalls direkt unter die Haut.

 

Von Elisabeth Einecke-Klövekorn

 

 

 

 

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„Keiner von euch Idioten versteht. Irgendwas. Davon. All das Blut, das sie getreten hat. Aus. Meinem Herzen!“

 

(Henry in "That Face" von Polly Stenham)